Dies Domini – 29. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Die Kirche der Gegenwart gleicht einer Mangelwirtschaft. Glaubensmangel, Priestermangel, Gemeindemangel, Gläubigenmangel sind in aller Mund. Vor allem die Gläubigen – so scheint es in vielen Äußerungen derer, die in der Kirche Verantwortung zu tragen vorgeben – scheinen Mangelexistenzen zu sein. Das zweite Vatikanische Konzil erinnert die Bischöfe und die Pfarrer als deren Mitarbeiter im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe „Christus Dominus“ daran, dass es ihr Auftrag und ihre Sorge ist,
„dass die Feier des eucharistischen Opfers Mitte und Höhepunkt des ganzen Lebens der christlichen Gemeinde ist. Ferner sollen sie darauf hinwirken, dass die Gläubigen durch den andächtigen und häufigen Empfang der Sakramente und durch die bewusste und tätige Teilnahme an der Liturgie mit geistlicher Speise genährt werden.“ (CD 30)
Stattdessen aber wird in Diskussionen angesichts sich abzeichnender geringer werdender Priesterzahlen die Gläubigen aufgefordert, sich übergemeindlich zu Eucharistiefeiern zu versammeln, wobei nicht selten die Bereitschaft, auch größere Entfernungen in Kauf zu nehmen, als Gradmesser eines lebendigen Glaubens herhalten muss. Da wird nicht danach gefragt, ob die Bewältigung größerer Entfernungen für ältere oder gehbehinderte Menschen überhaupt möglich ist. Es spielt auch keine Rolle, dass eine Gemeinde immer auch als Leib Christi ein lebendiger Organismus ist, den man nicht einfach mal so transplantieren kann, ohne dass es zu unerwünschten Begleiterscheinungen kommen kann. Stattdessen werden abstruse Ideen ins Spiel gebracht, man könne ja Busunternehmen beauftragen, die Menschen an zentralen Orten zum Gottesdienst zusammenzukarren. Ob so eine wirklich neue lebendige Gemeinde anstelle der real existierenden Gemeinden wachsen kann, wenn der Plan der Busshuttles jedes Beziehungsgeschehen bestimmt? Kann hier die Eucharistie wirklich noch „Mitte und Höhepunkt der christlichen Gemeinde“ sein, wenn die Gemeinde als solches offenkundig und bestenfalls nur noch als strukturelle Größe, aber nicht mehr als organisch gewachsener Leib Christi gedacht wird?
Fatal ist in jedem Fall, dass hier die Verantwortungen umgekehrt werden. Nimmt des Konzil noch die Bischöfe und Pfarrer in die Pflicht, wird nun die Verantwortung den Gläubigen zugeschustert und dieser vom Konzil her gerade nicht gedachte Paradigmenwechsel auch noch dadurch – man möchte fast sagen – perfide verbrämt, indem man den Skeptikern einen offenkundigen Mangel an Glaubensbereitschaft attestiert. Manch ein Priester wähnt sich auf diese Weise als Mitte der sakramentalen Gestalt der Kirche, dass die Menschen zu ihm pilgern müssen. Welch ein anderes Bild geben da die Wandermissionare und -apostel der frühen Kirche ab, die wie Paulus, Petrus, Andreas und Johannes, Judas Thaddäus und Thomas und die vielen anderen von Stadt zu Stadt zogen, um das Evangelium des vom Kreuzestod Auferstandenen in die Welt und unter die Völker zu tragen. Aus den so bewegten Aposteln sind heute residierende Pfarrer geworden. Nein: Die Christen leiden nicht an einem Glaubensmangel. Nein: Es gibt auch keinen Gläubigenmangel und einen Mangel an Gemeinden schon gar nicht. Es gibt wahrscheinlich noch nicht einmal einen Priestermangel – wenigstens in unseren Breiten nicht. Was es wohl gibt, ist ein Mangel an Flexibilität und Bewegung der Verantwortlichen, deren Bereitschaft, sich auf die Gemeinden zu zu bewegen offenkundig in jeder Hinsicht begrenzt ist. Dabei wäre es ja sogar ökologisch nachhaltiger, wenn sich wenige durch die Lande zu den Gemeinden bewegten, als wenn ganze Gemeinden durch die Landschaft fahren.
Das Beklagen des Mangels hingegen ist bequem für die, die Verantwortung zu tragen vorgeben. In subtil vorgetäuschter Hilflosigkeit akzeptieren sie auf diese Weise einen Status quo und schieben die Verantwortung dann den Gläubigen zu. Das ist zwar irgendwie schäbig und schnöde, aber halt bequem. Das gleicht auf fatale Weise jener Situation, die den Hintergrund des Gleichnisses bildet, das Jesus im Evangelium vom 29. Sonntag im Jahreskreis im Lesejahr C erzählt:
In einer Stadt lebte ein Richter, der Gott nicht fürchtete und auf keinen Menschen Rücksicht nahm. (Lukas 18,2)
Der Richter ist mächtig. Er entscheidet über Recht oder Unrecht – und das offenkundig im Gleichnis völlig willkürlich, denn er fürchtet weder Gott noch Menschen. Er handelt nach eigenem Gutdünken. Wie auch immer er in seine Position geraten ist, er kann sich seine Arroganz offenkundig leisten.
Als Gegenspielerin des Richters stellt Jesus in seinem Gleichnis eine Witwe vor, die nach Macht und Ansehen, dem Richter kaum das Wasser reichen kann. Aber sie braucht ihn, um an ihr Recht zu kommen, weshalb sie immer wieder zu ihm geht und sagt:
Verschaff mir Recht gegen meinen Widersacher! (Lukas 18,3)
Der Text betont dabei mit der eher seltenen Form ἤρχετο (gesprochen: ércheto), der dritten Person Imperfekt von ἔρχεσθαι (gesprochen: érchesthai), die sich im Neuen Testament überhaupt nur viermal findet, dass es sich um ein „Kommen wieder und wieder“ handelt. Die grammatikalische Form signalisiert also schon in sich das Drängen der Witwe.
Dem wiederholten und ständigen Dränger der Witwe steht das aufschiebende Zögern des Richters als starker Kontrast gegenüber:
Er wollte lange Zeit nicht. (Lukas 18,4)
Mit der Gewalt des selbst Steine höhlenden steten Tropfens lässt die Witwe aber nicht nach. Sie hat nicht nur nichts zu verlieren; sie verlangt ihr Recht von dem, der Verantwortung dafür trägt. Und sie kommt zum Ziel, weil sie einfach lästig ist. Möglicherweise aus purer Bequemlichkeit und um seine Ruhe wiederzuerlangen, bewegt der sich doch:
Ich fürchte zwar Gott nicht und nehme auch auf keinen Menschen Rücksicht; weil mich diese Witwe aber nicht in Ruhe lässt, will ich ihr Recht verschaffen. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht. (Lukas 18,4b.5)
Jesus selbst macht dann die Witwe zum Vorbild für die Glaubenden:
Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen. Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden? (Lukas 18,6b-8)
Der Abschluss ist bemerkenswert, denn er beinhaltet den Verweis auf das Gericht, dem Jesus selbst als Richter vorsitzen wird. Ja, er befürchtet einen eklatanten Mangel an Glauben – aber nicht bei denen, die ihr Recht einfordern, sondern bei denen, die vorgeben, Verantwortung zu haben, aber nicht gemäß ihrer Verantwortung handeln. Der so inszenierte perfide Rollentausch könnte Folgen haben, wenn die Gemeinden wie die Witwe in die Rolle der Mahner schlüpfen und ihrerseits das in der zweiten Lesung vom 29. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C an Timotheus gerichtete Wort beherzigen:
Verkünde das Wort, tritt auf, ob gelegen oder ungelegen, überführe, weise zurecht, ermahne, in aller Geduld und Belehrung! (2 Timotheus 4,2)
Wenn die Eucharistie in die Mitte der Gemeinde gehört, dann müssen Bischöfe und Pfarrer endlich die ihnen zugeschriebene Verantwortung annehmen und nach Wegen such, wie das gewährleistet werden kann. Kreativität ist hier gefragt und Bewegungsfreude – geistlich wie körperlich. Es ist offenkundig wieder einmal an der Zeit, die Prioritäten neu zu justieren. Das Beklagen des Mangels kommt zu vielen zu gelegen; ungelegen hingegen scheint es wohl zu sein, angesichts der Bedeutung, die die Eucharistie als Quelle, Mitte und Höhepunkt der Gemeinde hat, nach Lösungen zu suchen, die den Menschen wieder ermöglicht, zu erleben, dass Jesus bei ihnen zu Gast ist und er in ihre Mitte einkehrt. Bedenkenträger gibt es viele, wo Verantwortungsträger gefordert wären …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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